Der Fels

Als der Fels in der Brandung sich entschied, kein Fels mehr zu sein

Als der Fels in der Brandung sich entschied, kein Fels mehr zu sein

 

Es war in einer Nacht der Mondfinsternis, als der Fels in der Brandung sich entschied, kein Fels mehr zu sein.
Niemand sah es. Niemand hörte es. Doch tief in seinem Inneren, dort, wo einst nur Schweigen und Stärke wohnten, regte sich ein Gefühl, das lange keinen Platz hatte: Müdigkeit.

 

Ein Leben im Dienst der Anderen

 

Der Fels stand schon ewig an seinem Platz. Er hatte ausgehalten. Nicht nur die Wellen, die Stürme, das Salz – sondern auch all die Erwartungen, die stumme Bewunderung, das Bedürfnis anderer, sich an ihm festzuhalten. Für viele war er ein Symbol: stark, verlässlich, unerschütterlich. Ein Ort, an dem man sich sicher fühlen durfte.
Doch kaum jemand fragte sich je, wie es dem Fels selbst damit ging.

 

Die erste Regung

 

Denn auch ein Fels kann ermüden. Er war nicht aus kaltem Stein gemacht, wie alle dachten. In seinem Innersten trug er Wärme. Ein Herz. Eine Sehnsucht. Doch er hatte sie begraben – unter Schichten aus Pflichten, Fürsorge, stiller Hingabe. Er war da, weil er gebraucht wurde. Immer. Jahrzehnte, Jahrhunderte lang.

 

Die Entscheidung

 

Und dann – in dieser besonderen Nacht – kam die Erkenntnis mit dem Schatten des Mondes:
Vielleicht war das genug. Vielleicht durfte auch ein Fels weich werden. Vielleicht war es an der Zeit, sich selbst nicht länger zu verleugnen. Vielleicht war es Zeit für etwas Neues.

 

Der Wandel beginnt

 

Zuerst war es nur ein kaum wahrnehmbares Beben. Ein feiner Riss, der sich durch seine Mitte zog. Nicht zerstörerisch – eher wie ein erstes, zaghaftes Aufatmen. Doch was folgte, war nicht nur Erleichterung. Es war auch Trauer. Und Angst.

 

Die Reaktion der Welt

 

Als der Morgen kam, lag da kein majestätischer Fels mehr in der Brandung. Nur noch Bruchstücke. Kiesel. Spuren einer Stärke, die lange als selbstverständlich galt. Die Welt, die ihn bewundert hatte, reagierte mit Schweigen, mit Enttäuschung, mit Ratlosigkeit.
Und der Fels – nun zersplittert – fühlte all das. Ihre Blicke, ihr Unverständnis, ihre heimliche Frage: Warum hast du das getan?
Er fragte sich selbst: War ich nur wertvoll, solange ich stark war?

 

Erinnerung & Erkenntnis

 

Er erinnerte sich an die vielen Jahre, in denen er alles getragen hatte – schweigend. An die unzähligen Male, in denen er sich selbst zurücknahm, um andere zu halten. An all die unausgesprochenen Erwartungen, die sich wie Gewicht auf ihm niedergelassen hatten.
Und jetzt, wo er losgelassen hatte – jetzt war da plötzlich Leere. Kein Applaus. Kein Trost. Nur Stille.
Aber Stille kann auch ein Anfang sein. Ein erster Schritt hinaus aus der Rolle – hinein ins Leben.
Willkommen in der Wirklichkeit. Nicht der glatten, geschönten, kontrollierten – sondern der echten. Der unperfekten. Der ehrlichen.

 

Aufbruch

 

Mit der Zeit kam Bewegung. Die Bruchstücke wurden von den Wellen getragen – sanft, fast fürsorglich. Neue Orte. Neue Formen. Neue Möglichkeiten.
Manchmal lag er irgendwo unbeachtet, ein unscheinbarer Stein unter vielen. Und manchmal wurde er aufgehoben, betrachtet, gewürdigt – nicht für seine Stärke, sondern für das, was er war: echt.

 

Ankommen

 

Er war nicht mehr der Fels, der alles hielt – aber er wurde zu etwas, das sich selbst halten konnte.
Und eines Tages – in einem dieser stillen Momente, in denen das Licht sanft über ihn fiel – spürte er etwas Unerwartetes: Frieden.
Nicht, weil alles gut war. Sondern weil er verstanden hatte: Veränderung ist kein Scheitern. Weich zu werden ist kein Verlust.
Es ist Mut. Es ist Leben. Es ist Wachstum.

 

Ein neues Sein

 

So wurde aus dem Fels in der Brandung ein Kieselstein auf der Reise. Und vielleicht – irgendwann – ein Sandkorn im Wind. Teil eines Ganzen. Frei. Leicht. Lebendig.
Nicht mehr der, der alles zusammenhielt. Aber einer, der gelernt hatte, sich selbst nicht länger zu verlieren – und der nun lernte, sich selbst zu begegnen. Mit offenen Augen. Und offenem Herzen. In der Wirklichkeit!

 

©Iris Bachmann

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Kommentare: 1
  • #1

    Wiltrud (Freitag, 18 April 2025 12:16)

    Liebe Iris, ein sehr schöner, sehr lyrischer Text❣️
    Wusste gar nicht, dass das auch dein Metier ist!
    Toller Text, der Inhalt könnte von mir sein. In der Umsetzung scheinst du schon einen Schritt voraus �
    Die Sonnenstürme - wie die Finsternisse - werden bei den wahren Menschen alles was nicht mehr echt ist, mehr oder weniger drastisch ans Licht befördern. Damit endlich eine authentische neue Welt entstehen kann! Ohne Lüge, Täuschung, Verstellung, Ausgrenzung weil man anders denkt….etc.
    Ist das nicht wunderbar?!
    Nur menschlich gefühlt, durchlebt und durchlitten eben doch auch schmerzhaft bis traumatisch. Der Weg zurück in scheinbare Sicherheit wird bestimmt erst recht traumatisch�‍♀️
    Das ist wohl die Wahrheit…
    Der Mut neue Wege zu gehen offensichtlich all-ein gehört wohl zum Geburtsprozess.
    So fühlt es sich gerade an für mich.
    In dieser Zeit , mit der Verheißung der Göttin Ostsra, kann Neubeginn doch nicht besser eingebettet sein?! Was meinst du?
    Mut ist eine Tugend der Frauen von Anbeginn. Nutzen wir unseren Mut und unsere Intuition neue Wege zu gehen zum höchsten Wohle aller und unseres Selbst.
    Herzensfrohe und Selbstliebe gefüllte Osterzeit�